Auf unserer Kundgebung zum 75. Jahrestag der Bombardierung Heilbronns sprach unter anderem der Stadtrat Dr. Erhard Jöst. In seiner Rede erinnerte Jöst an die Pflicht, die Erinnerung an das Heilbronner Inferno mit der Auseinandersetzung mit den Ursachen des Krieges und dem Kampf gegen den Faschismus zu verknüpfen. Im Folgenden dokumentieren wir seinen Beitrag:
Der am 30. März 1923 in Heilbronn geborene Schriftsteller Herbert Asmodi hatte ein gespaltenes Verhältnis zu Heilbronn: „Heilbronn ist nicht meine Heimatstadt, es ist meine Geburtsstadt. Geburt passiert, Heimat entsteht durch Identifikation. Dabei muß Heimat durchaus nicht in der realen Welt sein. Ich für meine Person habe sie da weder gesucht noch gefunden“, schrieb er am 1. April 1988 in einem Brief an OB Dr. Weinmann. Aber auch ihn, der ein so distanziertes Verhältnis zur Stadt Heilbronn hatte, hat ihre Bombardierung tief bewegt. „Ich habe seinerzeit durch Urlauber aus Heilbronn von ihrer furchtbaren Heimsuchung erfahren – nachts, während einer Wache auf dem zugefrorenen Plattensee, wo meine Einheit auf dem Rückzug vom Balkan Station machte. Natürlich war das Ausmaß der Zerstörung weil unvorstellbar nicht erzählbar – das mußte man nach der Heimkehr erst mit eigenen Augen sehen. Das galt womöglich noch mehr für das menschliche Elend, die Hölle, die Bomben und Feuersturm verursachten.“ (Brief an Weinmann vom 16.5.1995).
In der Tat war es schwer, dieses Inferno zu schildern. Es dauerte Jahrzehnte, bis Augenzeugen die Kraft fanden, ihre schrecklichen Erlebnisse zu erzählen. Aber als die Amerikaner auf der Heilbronner Waldheide die atomar bestückten Pershing-Raketen aufstellten, kamen bei vielen Frauen wieder die erlebten Bilder und Ängste ins Bewusstsein und sie nahmen sie zum Anlass, um sich von ihnen frei zu sprechen und um vor neuen Kriegen zu warnen.
Zusammen mit Lilo Klug hatte meine Frau Christel 1983 das Buchprojekt „Heimatfront. Wir überlebten“ der Werkstattgruppe Frauen für Frieden ins Leben gerufen. Leider hat das Buch in Heilbronn nicht die Beachtung gefunden, die es verdient hat, und es besteht sogar die Gefahr, dass es der Vergessenheit anheim fällt, was verhindert werden muss. Denn es ist ein wichtiges Zeitdokument, das übrigens auch in englischer Übersetzung unter dem Titel „Surviving the Fire“ in den USA erschienen ist und dort eine viel größere Resonanz hatte als bei uns.
Bereits der Entstehungsprozess des Buchs war essentiell: Die Zusammenkünfte, auf denen die Frauen von ihren Kriegserlebnissen und im besonderen von dem 4. Dezember berichteten, verliefen tränenreich, denn die Erinnerungen waren schmerzhaft. Aber sie waren bitter notwendig, und vor allem das Ergebnis ist lehrreich. „In den Berichten der Heilbronner Frauen steckt etwas von dieser Wahrheit (des Krieges), die nicht totzuschweigen, nicht wegzulügen ist. Diese Frauen wissen in ihrem Schreiben etwas, das die Mehrzahl unserer Politiker noch nie begriffen oder schnell wieder verdrängt haben, es ist eine Einsicht, die Sigmund Freud gedacht hat: Wer sich nicht erinnert, wird gezwungen, das Verdrängte noch einmal zu erleben. Wer den Krieg von früher vergißt, bereitet den von morgen vor. Darum ist die Erinnerungsarbeit, die in diesem Buch geleistet wird, Friedensarbeit“, schreibt Dorothee Sölle in ihrem Vorwort zu dem Buch „Heimatfront“ und stellt die rhetorische Frage: „Kann eine Frau, die ihre Gefühle dem Krieg gegenüber kennt und sie vielleicht in diesem Buch wiedererkennt, also nicht mehr verdrängt, sich tatsächlich immer noch den Luxus erlauben, ‚unpolitisch‘ zu sein?“ Sicherlich nicht, wird man antworten und Sölles Erkenntnis zitieren: „Das ist die Wahrheit: Krieg ist staatlich organisierter Mord, und jeder, der ihn vorbereitet, arbeitet das Verbrechen aus.“
Das Buch „Heimatfront“ will als „Mahnung“ verstanden werden und als „Aufforderung, wachsam zu sein, kritisch zu sein, auch unbequem und rechtzeitig Nein zu sagen, damit nie wieder geschehen kann“, wovon in ihm erzählt wird.
Die Schilderungen der Frauen, die Augenzeugen des Bombenangriffs vom 4. Dezember 1944 waren, sind erschütternd und gehen alle unter die Haut. Stellvertretend greife ich Auszüge aus dem Bericht von Gertrud Hofstetter heraus.
„Am 4. Dezember 1944 gegen 19.00 Uhr gab es Alarm. In der Luft standen über der ganzen Stadt die „Christbäume“, die einen Luftangriff anzeigten. Schnell eilte ich mit meinen beiden kleinen Kindern in unseren Keller, in den noch mehrere Personen geflüchtet waren. Wir wohnten damals in der Hohenstaufenstraße. Kurz darauf fiel die erste Bombe. Durch den Angriff wurde unser Keller so erschüttert, daß sich sechs Frauen gegen die Eisentür stemmen mußten, damit sie durch die Druckwellen nicht aufspringen konnte.
Indessen hatten sich unsere Kinder angstvoll in den Luftschutzbetten verkrochen. Ungefähr eine halbe Stunde dauerte der Angriff. (…) Die Stadt brannte lichterloh. Ich wollte sehen, ob meine Freunde in der Hohestraße noch am Leben waren. Deshalb machte ich mich auf den Weg durch das Flammenmeer. (…) Aus allen Bombenlöchern schlugen mir die Flammen entgegen. (…) Gräßliche Todesschreie kamen aus den Luftschutzkellern. Die Luftschutzwarte hatten den Befehl, die Türen geschlossen zu halten. Durch den Brand war es nun nicht mehr möglich, die Menschen zu befreien. Neben der zerstörten Klinik von Dr. Kahleyss lagen Kinder und eine Mutter mit ihrem Neugeborenen. Sie kauerten dort im Vorgarten beieinander, und ganz in der Nähe lag eine Kuh samt ihrem Kälbchen. Rundum brannte alles lichterloh. Mich erfaßte ein großes Grauen. Ich konnte den Anblick der vielen Toten nicht länger ertragen. (…)
Tiefe Verzweiflung herrschte bei den Zuhausegebliebenen. Eine Frau, die wenige Wochen vor dem Angriff ihr Kind geboren hatte, war wahnsinnig geworden. Kurz vor der Bombardierung erfuhr sie, daß ihr Mann gefallen war. Soviel Elend konnte sie nicht verkraften. Sie war nicht mehr in der Lage, sich um ihr Kind zu kümmern.“
Da ihr Haus unbewohnbar geworden war, wurde Gertrud Hofstetter notdürftig in der Kaserne einquartiert.
„Von der Kaserne aus, die auf einer Anhöhe lag, konnten wir mit dem Fernglas sehen, wie die Toten mit Schubkarren und Lastwagen in den Ehrenfriedhof gebracht wurden. In riesige Löcher wurden sie hineingeworfen. Männer mit weißen Kitteln haben nach jeder Fuhre Kalk über die Leiber geworfen: eine Schicht Kalk, eine Schicht Menschen, Kalk, Menschen, Kalk, Menschen … so ging das tagelang.
Nachts, wenn ich die Augen zumache, immer sehe ich die Toten in der Kalkgrube. Ich werde sie nie vergessen können.“
Die Nachfahren haben die Pflicht, die Erinnerung an das Heilbronner Inferno vom 4. Dezember 1944 und an seine Opfer aufrecht zu halten. Und sie dürfen niemals vergessen, nach den Kriegsursachen zu forschen, denn wenn man diese erfasst hat, ergibt sich aus ihnen die logische Konsequenz, sich bedingungslos für die Friedenserhaltung einzusetzen und den Faschismus in all seinen Formen zu bekämpfen. Es ist eine Notwendigkeit, die Toten zu ehren, zumal dann, wenn sie unschuldige Opfer waren. Insofern kann auch jedes Kriegerdenkmal zur Erinnerungskultur beitragen, aber in letzter Konsequenz nur dann, wenn man die Bezeichnung ernst nimmt und befolgt: Krieger: Denk mal! Solche Denkmäler führen in die Irre, wenn sie mit unsäglichen Parolen versehen sind wie: „Für Kaiser, Gott und Vaterland“ oder gar „Für Führer, Volk und Vaterland“. Denn die Soldaten sind zumeist verblendet und in die Irre geführt worden. Sie wurden keine „Opfer auf dem Altar des Vaterlands“, sondern sie wurden geopfert für die imperialistischen Ziele herrschender Cliquen, für Profitmaximierung und Machterweiterung.
Die Erinnerung an den 4. Dezember 1944 in Heilbronn wach zu halten, ist daher untrennbar verbunden mit der Pflicht, den Militarismus zu bekämpfen und sich für den Frieden einzusetzen. Die Frauen, die Beiträge zu dem Buch „Heimatfront“ schrieben, haben diese Forderungen klar formuliert. „Ich meine, wir sollten aus der Vergangenheit lernen, daß Kriege nur Leid und Elend bringen und daß alle Probleme friedlich gelöst werden können. Aus diesem Grund arbeite ich aktiv in der Friedensbewegung mit“, schrieb Hildegard Baumbach. Und Irma Lindenmaier hat es so formuliert: „Damals – im Anblick dieses Elends – habe ich mir vorgenommen (…), alles in meiner Macht liegende zur Erhaltung des Friedens beizutragen und überall und immer darauf hinzuweisen, daß Krieg Unrecht ist, aus welchen Gründen er auch geführt werden mag.“
Wie weit haben wir uns von diesen Positionen entfernt, wenn gegenwärtig die Ministerin für Verteidigung mit Nachdruck fordert, dass sich Deutschland noch mehr bei der Entwicklung von effektiveren Waffensystemen engagieren soll, und wenn sie die Kriegseinsätze der Bundeswehr erweitern möchte. Bereits heute ist Deutschland nach den USA, Russland und Frankreich der viertgrößte Waffenlieferant weltweit. Haben wir denn die eindringlichen Zeilen vergessen, die Wolfgang Borchert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat?
„Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst statt Puder und Kakao Schießpulver verkaufen, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!
Du, Forscher im Laboratorium. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod erfinden gegen das alte Leben, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!“
Wir Friedensfreunde fordern alle Menschen dazu auf, NEIN zu sagen zum Ausbau von Kriegseinsätzen! Gerade Deutschland hat die moralische Verpflichtung, Friedenspolitik zu betreiben.
Richtig ist daher der Aufruf der Evangelischen Kirche in Deutschland, den sie vor kurzem nach Abschluss ihrer Jahrestagung veröffentlicht hat. Er lautet:
„Wir rufen die politisch Verantwortlichen dazu auf, militärische Gewalt und kriegerische Mittel zu überwinden.“ Von der Bundesregierung verlangt die EKD zurecht, „mehr Mittel im Bundeshaushalt für die zivile Friedenssicherung“ bereit zu stellen: Mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts sollten für entwicklungspolitische Maßnahmen, Krisenprävention, Konfliktbewältigung und zivile Aufbauarbeit in Krisenregionen reserviert werden.
Das Inferno des 4. Dezember 1944 und die Stationierung von Atomraketen war für die Heilbronner Friedensfrauen der Anlass, sich aktiv in die Friedensbewegung einzubringen. Wir sollten, ja wir müssen uns die Heilbronner Frauen für Frieden zum Vorbild nehmen und sie den künftigen Generationen als solche empfehlen. Ihre Berichte über Heilbronns Schicksalstag müssen im Gedächtnis der Bürgerschaft fest verankert werden zur Unterstützung der Mahnung:
Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!