Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag von Thüringen hat Ende September seinen umfangreichen Abschlussbericht vorgelegt. Das online frei zugängliche Dokument ist auch aus baden-württembergischer bzw. Heilbronner Sicht interessant. Zum einen ist dort zu lesen, dass der NSU laut den Erkenntnissen des Ausschusses keine isolierte Zelle, sondern ein militantes Netzwerk von Neonazis war. Im Bericht heisst es z.B.:
Die den Abgeordneten vorliegenden Akten, Zeugenaussagen und Recherchematerialien lassen nur den Schluss zu, dass das Unterstützernetzwerk des NSU mindestens mehrere Dutzend Personen umfasste oder auch heute noch umfasst. Das Unterstützernetzwerk
des NSU besteht nach Auffassung des Untersuchungsausschusses aus Personen, die
wissentlich oder unwissentlich durch Handeln oder Unterlassen zum „Gelingen“ des NSU – sei es das Untertauchen und Verbergen, sei es Logistik und Abtarnung, Vorbereitung und Durchführung von Taten – beigetragen oder einen solchen Beitrag billigend in Kauf genommen haben.
Laut dem Thüringer Ausschuss gehörten zum Unterstützernetzwerk des NSU u.a. Sektionen des Neonazi-Netzwerks „Blood & Honour“ in Sachsen und Thüringen, aber auch weitere unbekannte Personen, die z.B. bei der Ausspähung von Tatorten geholfen haben könnten. Eine beim NSU gefundene Liste von eventuellen Zielobjekten („10.000er Liste“) kann laut Untersuchungsausschuss nur durch die Zuarbeit dritter Personen beruhen. Laut einem Artikel in der Stuttgarter Zeitung standen auf der Liste auch baden-württembergische Politiker wie der Heilbronner CDU-Abgeordnete und derzeitige Innenminister Thomas Strobl.
Der Ausschuss kritisiert außerdem die Arbeit von Polizei und Justiz. Dort sei man über Verbindungen zwischen der rechtsextremen Szene und Rocker-Gruppen und der Organisierten Kriminalität nicht ausreichend informiert gewesen. Dem Verfassungsschutz macht der Ausschuss schwere Vorwürfe. Laut Bericht hat der Geheimdienst die Neonazi-Szene falsch eingeschätzt, die Szene durch V-Personen mit aufgebaut und Hinweise auf den NSU nicht verfolgt. Im Bericht heisst es z.B.:
Den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder Thüringen, Brandenburg und Sachsen lagen ausreichende Informationen darüber vor, dass das mutmaßliche NSU-Kerntrio sich ab 1998 bewaffnete und diese Waffen auch einsetzte bzw. einsetzen wollte. Ebenso lagen bei den genannten Behörden hinreichend Erkenntnisse sowohl über die Aufenthaltsorte des mutmaßlichen NSU-Kerntrios als auch militante Aktivitäten der bereits damals bekannten Unterstützer und Unterstützerinnen vor, um davon ableitend zu erkennen, dass sich eine militante und bewaffnete Neonazistruktur herausgebildet hatte.
Auch zum Mord an der Polizistin Michéle Kiesewetter in Heilbronn am 25. April 2007 hält der Ausschuss-Bericht Brisantes fest. Anders als die Bundesanwaltschaft und die NSU-Untersuchungsausschüsse in Baden-Württemberg zweifelt der Thüringer Ausschuss daran, dass Kiesewetter zufällig vom NSU erschossen wurde. Im Bericht wird auf Verflechtungen in die rechtsextreme Szene im Umfeld von Michèle Kiesewetter hingewiesen. Außerdem werden zahlreiche Verbindungen zwischen der rechtsextremen Szene in Baden-Württemberg und in Thüringen aufgeführt. Dabei geht es unter anderem um „Blood & Honour“, aber auch um Ludwigsburger Neonazis und Personen aus dem Umfeld des Heilbronner Rechtsextremisten Michael Dangel. In diesem Zusammenhang kritisiert der Ausschuss auch baden-württembergische Behörden:
Ungeachtet der Tatsache, dass dem Untersuchungsausschuss 6/1 eine Wertung der Ermittlungstätigkeit baden-württembergischer Behörden nicht obliegt, stellt er fest, dass nach allen ihm vorliegenden Informationen die Strukturen der extrem rechten Szene in Baden-Württemberg sowie Verbindungen zur Organisierten Kriminalität nicht in dem Maße beachtet und aufgeklärt wurden, wie es erforderlich gewesen wäre. Der Untersuchungsausschuss 6/1 bezweifelt, dass Michèle Kiesewetter ein bloßes Zufalls-
opfer des NSU gewesen ist.
Allerdings schreibt der Ausschuss ausdrücklich, dass er nur „Ermittlungsansätze“ und „Ansatzpunkte“ für weitere notwendige Ermittlungen gefunden hat. Ob tatsächlich ein Zusammenhang mit dem Kiesewetter-Mord besteht, ist weiterhin unklar. Die Landtagsfraktion der Grünen in Baden-Württemberg ist nicht überzeugt davon, dass die Polizistin aus Thüringen gezielt ermordet wurde. Laut der Grünen-Abgeordneten Petra Häffner ist es nicht überraschend, dass Untersuchungsausschüsse zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Der Bericht steht als Download auf der Seite des Thüringer Landtags zur Verfügung: http://www.parldok.thueringen.de/ParlDok/dokument/72378/fortsetzung_der_aufarbeitung_der_dem_nationalsozialistischen_untergrund_nsu_sowie_der_mit_ihm_kooperierenden_netzwerke_zuzuordnenden_straftaten_unte.pdf